
© Foto: Karoline, 2019
Schon lange hab ich kein Heftchen mit Klasse mehr gelesen. Nach einigen großen Reihenprojekten war es für mich mal wieder an der Zeit, knackig kurze Klassiker zu lesen. Sie sind einfach praktisch als Einschub und in jeder Straßenbahn leicht zu halten. Diesmal sollte ein altvertrauter Geschichtenerzähler meine Fahrten kurzweilig gestalten. Zwei Nachtstücke von E.T.A. Hoffmann standen auf dem Programm. In Der Sandmann gerät Student Nathanael in die Fänge eines zwielichtigen Zeitgenossen. Als Kind beobachtete er, wie der Vater mit einem widerwärtigen Mann Alchemie betrieb. Um die beiden nicht zu stören, erzählte die Mutter ihm, dass es der Sandmann sei, der häufig zu Besuch kommt und der jedem Kind, das er sieht, die Augen ausschälen würde. Trotz des Verbotes schleicht sich der kleine Nathanael in die Stube und wird prompt entdeckt. Der Widerliche stürzt auf ihn zu, in Begriff ihm die Augen auszureißen. Der Junge wird ohnmächtig und wacht in den heimeligen Armen seiner Mutter auf. Kurze Zeit später stirbt sein Vater unter mysteriösen Umständen, während der Alchemist spurlos verschwindet. Als Nathanael nun Jahre später eben diesem wiederbegegnet, nimmt das Drama erneut seinen Lauf.
Ich gebe zu, dass mich das Ende dieser Geschichte längere Zeit beschäftigt hat. Nicht nur, dass es schwer für mich war, den Inhalt strukturiert in Worte zu fassen, auch die Moral hat sich mir nicht sofort erschlossen. Die Geschichte war wirklich abwechslungsreich erzählt: Hoffmann wechselt von Briefroman zu übergeordnetem Erzähler, mehrere Zeitebenen verdichten das Mysterium um den Bösewicht. Egal, wie die Moral auch sein mag (vielleicht, dass man nicht heimlich lauschen sollte?), ich wurde prächtig unterhalten und gegruselt hat es mich bei diesem Nachtstück ebenfalls. Ziel erreicht, Herr Hoffmann!
Etwas schwerer tat ich mich beim zweiten Nachtstück Das öde Haus. Student Franz berichtet seinen Freunden von einer wunderlichen Begebenheit, die sich vor einiger Zeit bei ihm zugetragen hat. Alles dreht sich um ein ödes, verlassenes Haus in einer sonst prunkvollen Straße. Wie gebannt muss er ständig an diesem Haus vorbei flanieren. Als er eines Tages eine zarte Hand im Fenster entdeckt, weiß er, dass es in dem Haus spukt. Er beginnt zu recherchieren und wird in eine immer abstruser werdende Tragödie verwickelt.
So sehr mich die erste Geschichte begeistern konnte, so enttäuscht war ich von der zweiten. Sie fing vielversprechend an und wurde einfach immer unglaubwürdiger und unverständlicher bis ich zum Schluss mehrmals nachlesen musste, um die Auflösung der Geschichte zu verstehen. Einziger Pluspunkt ist die Querverbindung beider Stücke miteinander, denn der Bösewicht aus Der Sandmann findet auch in Das öde Haus Erwähnung. Ebenso ist die Thematik der Alchemie und Zauberei allgegenwärtig, sodass ich die Kombination beider Titel in einem Heftchen als durchaus schlüssig empfand. Ich war trotz der gemischten Qualität wieder einmal begeistert von Herrn Hoffmanns Einfallsreichtum und habe es definitiv nicht bereut in der Straßenbahn ein wenig deutsche Literaturgeschichte kennengelernt zu haben.
Autor: E.T.A. Hoffmann
Buchtitel: Der Sandmann, Das öde Haus
Verlag: Hamburger Lesehefte Verlag