Das Leipziger Leben der 20er Jahre

"Der rote Judas" von Thomas Ziebula vor dem Bundesverwaltungsgericht Leipzig

© Foto: Karoline, 2020

Dass mein Herz für Cosy Crimes schlägt, dürfte allgemein bekannt sein. Seit einiger Zeit erweitere ich meinen kriminologischen Horizont um die historische Komponente. Kommissar Gereon Rath begleitete ich bereits mehrmals durch das quirlige Berlin der Weimarer Republik. Doch blieben mir Nicht-Berlinerin die vielen örtlichen Bezüge stets fremd. Nicht so beim neuen Reihenauftakt von Thomas Ziebula. Der rote Judas entführte mich ins Leipzig des Jahres 1920, als die ersten Elektrischen (Trams) eine neue Zeit der Mobilität einläuteten. Also alle einsteigen, nächster Halt: Polizeiwache Dimitroffstraße.

Der Heimkehrer

Paul Stainer hat den Weltkrieg überlebt. Während seine Leidensgenossen noch in Strafgefangenenlagern der Siegermächte vor sich hinvegetieren oder als wertlose Krüppel nach Hause geschickt worden sind, so erging es ihm weitaus besser. Er kann sehen, er kann laufen, er hat noch beide Arme und steht gerade auf dem brandneuen Hauptbahnhof seiner Heimatstadt Leipzig. Warum gerade er dieses Gemetzel der Welten so unbeschadet überstanden hat, wird er sich im Laufe der Zeit mehr als einmal fragen.

Voll freudiger Erwartung fährt Paul in seine alte Wohnung und hofft auf einen warmen Empfang seiner liebenden Ehefrau Edith. Diese begegnet ihm jedoch recht kühl und will ihn sofort wieder aus der Wohnung werfen. Seine ganzen Verdienstmarken als Polizist sind auch von der Wand verschwunden. Was ist hier nur los? Als dann der neue Hausfreund seiner Frau erscheint, wird aus Verdacht bittere Realität. Edith hat sich einen Anderen gesucht.

Der Kriminalist

Wenigstens läuft es auf der Arbeit gut. Aufgrund des akuten Personalmangels darf Stainer ab sofort als Kommissar seine eigene kleine Truppe leiten. Die wird auch prompt zu einem Suizid gerufen. Ein Mann hat sich erhängt. Aber ist es wirklich so einfach wie der übergewichtige Gerichtsmediziner ihm weismachen möchte? Dann tauchen immer mehr Leichen auf Leipzigs Straßen auf und Stainer stößt schnell auf mysteriöse Zusammenhänge. Kannten sich die Opfer etwa alle? Was verband sie miteinander? Als ob das Ermitteln nicht schon anspruchsvoll genug wäre, so muss der frisch ernannte Kommissar seiner Einheit auch noch ein intaktes Gedächtnis vorgaukeln. Denn wenn jemand seine fehlenden Erinnerungen entdecken würde, wäre das sein sofortiges Karriere-Ende.

Das Leipziger Leben der 20er Jahre

Voller Spannung folgte ich Paul Stainers Spuren durch Leipzig und freute mich über alle Gebäude, die ihren Weg durch das letzte Jahrhundert heil überstanden haben. Das Bundesverwaltungsgericht, der Eiskeller, der Felsenkeller, die Polizeiwache in der Dimitroffstraße, so viele bekannte Anhaltspunkte machten mir diesen historischen Krimi unglaublich sympathisch und greifbar.

Paul Stainer ist dabei der übliche Prototyp eines kaputten Ermittlers, dem im Leben nichts außer seiner Arbeit geblieben ist. Und diese erfüllt er deshalb ohne Rücksicht auf seine persönliche Unversehrtheit. Thomas Ziebula erzählt auf wirklich eindringliche Weise, wie es den Heimkehrern damals ergangen sein muss. Kommissar Stainer ist das Inbild eines Menschen, der an einer Kriegspsychose leidet. Doch war psychologische Behandlung in der damaligen Zeit verpönt und Betroffene ließen sich erst darauf ein, wenn bereits Hopfen und Malz verloren schien.

Das Drumherum

Für eine wunderbare Auflockerung sorgten die knackig kurzen Kapitel und ständigen Perspektivwechsel. So erfahren wir, was den Hobbyboxer Max Heiland auf die schiefe Bahn brachte und welche Gedanken eine junge Frau namens Rosa ihrem Tagebuch anvertraut. Erst mit der Zeit findet der Leser heraus, wie all die verschiedenen Schicksale miteinander verwoben sind.

Auch wenn Thomas Ziebulas Krimi-Auftakt in seiner Komplexität nicht ganz an Volker Kutschers Berlin-Reihe anknüpfen kann, so hat er doch einen lockerflockig verfassten und deshalb nicht minder unterhaltsamen Roman geschrieben. Mein persönlicher Pluspunkt ist dabei natürlich die lokale Kulisse. Wer sich also einen „Volker Kutscher light“ wünscht, dem kann ich Der rote Judas nur wärmstens ans Herz legen. Und falls ihr euch wundert, welches Gebäude auf meinem Titelbild zu sehen ist: Ratet doch mal und schreibt es in die Kommentare 😉

Karoline

Autor: Thomas Ziebula
Buchtitel:
Der rote Judas
Verlag: Wunderlich im Rowohlt Verlag

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