
© Foto: Katrin, 2019
Hereinspaziert, liebe Blogbesucher und herzlich willkommen zu unserem neuen Ländermonat. Als echte literarische Weltenbummler entdecken wir diesen September Unterhaltendes aus China. Ich selbst habe erst auf den letzten Drücker einen passenden Roman gefunden und zwar während meines Hamburg-Trips letzte Woche in einer von Bettinas Lieblingsbuchläden. Beide Buchhändlerinnen dort beschäftigte ich gut zehn Minuten mit meinem abstrus vagen Wunsch nach dem Buch einer chinesischen Autorin. Am Ende verließ ich den reizenden kleinen Laden freudestrahlend mit ihrer Empfehlung: Wandernde Himmel von Hao Jingfang. Die Autorin bekam für den Science-Fiction-Roman 2016 als erste chinesische Frau den Hugo Award verliehen. Für mich war dies nur ein weiterer Grund, mich darin zu vertiefen.
Im Jahr 2096 herrscht ein wackeliger Friede zwischen Erde und Mars. Beide Lebensräume haben sich in ihren Werten und ihrer Gesellschaftsform weit voneinander entfernt, benötigen allerdings noch immer gegenseitige Unterstützung. Ohne viel voneinander zu wissen, hegen beide Seiten immense Vorurteile. Die Bewohner der vor 40 Jahren gegründeten Mars-City schauen herab auf den zugespitzten Kapitalismus der ausgebeuteten Erde. Die Menschen dort wiederum verachten die neu entstandene Gesellschaft auf dem Mars als rückständige Diktatur, die den Menschen jegliche Freiheit verwehrt. Die 18-Jährige Luoying hat als Teil eines Schüleraustauschs auf beiden Planeten gelebt und kehrt nach fünf Jahren Ausbildung auf der Erde zurück auf ihren roten Heimatplaneten.
Doch kann sie nach all ihren Erfahrungen den roten Planeten noch immer Heimat nennen? Nach ihrer Wiederkehr fühlt sich Luoying wie gelähmt. Alles, was ihr als Kind vertraut war und völlig richtig erschien, stellt sie nun in Frage. Ist ihr Großvater, der Generalgouverneur von Mars-City wirklich ein Diktator? Die innere Struktur von Mars-City, das geregelte Ausbildungs- und Karrieresystem, erscheinen ihr zunehmend als Gefängnis. Sie erkennt, dass die geschaffene Stabilität und Sicherheit innerhalb der großen Glaskuppel gleichzeitig keinerlei Raum für Flexibilität und individuelle Unabhängigkeit lassen. Völlig verunsichert versucht die junge Frau, in ihrem alten Zuhause einen neuen Platz für sich zu finden.
Der Roman ist auf jeden Fall sehr interessant. Hao Jingfangs Zukunftsvision hat mich während des Lesens zunehmend in ihren Bann gezogen, obwohl es keine große Spannungskurve gibt. Für mich fühlt sich die Handlung besonders zu Beginn sogar ein wenig ziellos an. Allerdings liegt das an der Unschlüssigkeit der Protagonistin. Sie weiß nicht, wie sie künftig leben möchte und empfindet die Starre der herrschenden Technokratie als bedrückend. Ihren Mitschülern, die gemeinsam mit ihr auf der Erde waren, geht es ähnlich. Daher wechselt gelegentlich auch die Erzählperspektive, was das Gefühl des Schwankens noch verstärkt. Die Hauptfigur ist schwer zugänglich. Da ihre Eltern Jahre zuvor bei einem Unfall starben, fehlt ihr ein innerer Anker. Ihr älterer Bruder Rudy ist ihr fremd geworden, vor ihrem Großvater hat sie zu viel Scheu. Während sich um sie herum ein Großprojekt zur Weiterentwicklung der Mars-Zivilisation anbahnt, steht sie selbst nur am Rand. Sie beobachtet. Sie stellt Fragen und führt Gespräche. Sie versucht ihren Standpunkt zu finden, doch weiß einfach nicht, was sie glauben soll. Darum bleibt sie eher passiv und macht aufgrund ihrer Unsicherheit lediglich kleine Schritte.
Erst im Laufe des Romans setzen sich für den Leser die herrschenden Verhältnisse auf dem Mars zusammen. Je mehr Luoying sich erschließt und darüber nachdenkt, den Diskussionen und Erklärungen anderer lauscht, desto mehr begreift man selbst. Wirkliche Erklärungen oder Wertungen bietet die Autorin allerdings kaum. Selbst die Verhältnisse auf der Erde werden, bis auf einige Details aus Luoyings Leben dort, nur grob gestreift. Neutral bis distanziert lässt die Autorin ihre Haupt- und Nebenfiguren für sich selbst sprechen. Manchmal ist nicht ganz klar, ob es sich gerade um einen Monolog, eine Erinnerung oder eine Unterhaltung in der Gegenwart handelt. Für Zwischendrin ist das Buch daher meiner Meinung nach nichts. Konzentriert in einem Rutsch ist es besser zu erfassen, da in der Handlung markante Anknüpfungspunkte fehlen.
Dass die Autorin Physik und Wirtschaftswissenschaften studiert hat, merkt man dem Text und den geschilderten Konzepten an. Ihre realistische Science Fiction wirkt auf mich äußerst überzeugend. Obwohl ich mich als Leser auf den Mars begebe, unter gläserne Kuppeln, in technisch ausgerüstete Umgebungen mit offenen Datenbanken und automatisierten Systemen fühlt sich das nie besonders fremd an. Eine solch große Siedlung auf dem Mars scheint möglich und ein erstrebenswerter Neuanfang zu sein. Der ursprüngliche Idealismus der Bewohner ist nachvollziehbar und tatsächlich eine schöne Utopie. Auch, wenn die Autorin beides dekonstruiert und sich dadurch zunehmend Melancholie breit macht. Dieser Grundton passt jedoch hervorragend zur Hauptfigur.
Was mich beim Lesen hingegen zunehmend irritiert hat, war besonders die arg konventionelle Rollenverteilung. Jungen und Mädchen werden in Jingfangs Zukunft gleich ausgebildet, die Karrieren der Frauen werden jedoch völlig vernachlässigt. Am häufigsten treten weibliche Charaktere als oberflächliche Mädchen in Erscheinung. Das Buch wimmelt hingegen nur so von mächtigen Männern. Sie allein treffen Entscheidungen, haben entsprechende Positionen inne. Im Kontrast dazu steht die zarte, verunsicherte Hauptfigur, die sich ständig scheut, in irgendeiner Form in Aktion zu treten. Vielleicht ist das zum Teil der Tatsache geschuldet, dass der Roman bereits 2007 geschrieben und inhaltlich nie überarbeitet wurde (ein kurzer Blick auf das Nachwort lohnt sich auf jeden Fall). So richtig nachvollziehbar halte ich diesen Aspekt einer 200 Jahre in der Zukunft lebenden Gesellschaft jedoch nicht.
Wandernde Himmel ist kein Buch, das mich zu großen Begeisterungsstürmen verlockt. Aber wenn bereits der Prolog das Zugrundegehen der letzten Utopie verspricht, wäre das wohl auch etwas seltsam. Mir sind die geschilderten Gedanken häufig etwas zu vage, zu wenig mutig. Trotzdem hat mich der Roman wesentlich nachdenklicher gestimmt, als die Drei-Sonnen-Trilogie von Cixin Liu und fühlte sich realistischer an, als Becky Chambers Wayfarer-Reihe. Irgendwie erinnerte mich das Buch eher an einen Roman von Ursula K. Le Guin. Während ich die letzten Seiten umblättere, hallen die Melancholie und die offenen Fragen noch immer in mir nach. Wie wollen wir denn eigentlich in Zukunft leben? Was bedeuten uns Unabhängigkeit und Kreativität? Gibt es in einer hoch technisierten Gesellschaft eine Staatsform, innerhalb derer die Menschen gleichzeitig sicher und frei leben können? Mit Hao Jingfang ließe sich bestimmt gut über derlei Themen diskutieren.
Autorin: Hao Jingfang
Buchtitel: Wandernde Himmel
Übersetzung: aus dem Chinesischen von Marc Hermann
Verlage: Rowohlt polaris
Ein Gedanke zu “Wie wollen wir leben?”